Gesundheit und Mensch in der hochindustrialisierten Gesellschaft – »Homo patiens«
In hochindustrialisierten Gesellschaften stellt die spezialisierte, mit empirisch-experimentellen Methoden arbeitende, an einem technologischen Verständnis vom Menschen orientierte Medizin fest, ob wir „gesund“ sind oder nicht. Die ethischen, politischen, pädagogischen und auch gesundheitlichen Ambivalenzen dieser Normalität zeigen sich heute in vielen Bereichen.
So wird anhand festgelegter und nicht mehr fragwürdiger Parameter und Messwerte die Funktionstüchtigkeit des Körpers definiert. Die Definitionsmacht einer auf unsichtbare, weil für den Menschen nicht mehr sinnlich unmittelbar erfahrbare Risiken verweisenden Medizin durchdringt rasant die Lebenswelt.
Der einzelne Mensch, den es zwar betrifft, wird in dieser Perspektive schnell zum „Fall“, zum Gegenstand, zum Infektionsherd. Er wird entmündigt, sofern ihm die eigene Wahrnehmungsfähigkeit immer wieder abgesprochen wird, sie wird für unzureichend gehalten beziehungsweise anhand klinischer Diagnostik als psychopathologisches Erscheinungsbild gedeutet und damit den gängigen Normalisierungsstrategien zugeführt.
Der solchermaßen auf den Status eines homo patiens reduzierte Mensch – sei es als Erleidende/r oder als professionell Agierende/r – kann aber ein dynamisch überdauerndes, eher neutrales Wohlgefühl („awareness“) kaum als leibliche Erfahrung wahrnehmen und als Lebensmöglichkeit anerkennen.
Doch wird es den hier implementierten, gegenwärtig weltweit zunehmenden Sicherungssystemen tatsächlich gelingen, Menschen vor Überraschungen in der Zukunft zu bewahren? Oder wäre, umgekehrt, nicht genau das überraschungsoffene, um das Risiko des Lebens ‚wissende‘ Moment als zentrales Movens für neue Formen von Erziehung und Bildung im 21. Jahrhundert zu entwerfen?
Bildung im Kontext der Gesundheitsbildung
Bildung – wie sie hier verstanden wird – verweist auf das jedem Menschen innewohnende Potenzial, Sicht- und Handlungsweisen zu verändern und damit Begrenzungen zu überwinden, metaphorisch gesprochen: über sich selbst hinauszuwachsen, und auf diese Weise sich selbst, andere Menschen, die Gesellschaft und so weiter neu zu erfahren. Durch das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten in der sogenannten „Normalität des Alltags“ gilt es, den in unserer Gesellschaft vorherrschenden, oft sehr einseitig an Leistung und der Betonung persönlicher Stärken orientierten Denk- und Wahrnehmungsmustern „auf die Spur“ zu kommen und im Hintergrund wirkende Mechanismen zu erschließen.
Bildung beinhaltet aus dieser Sicht einen Transformationsprozess, der den Menschen nicht nur intellektuell anspricht, sondern ihn als ein gemeinschaftliches, auf Gemeinschaft gerichtetes Wesen zutiefst berührt und verändert. Auf diese Weise wird es möglich, die eigene Subjekthaftigkeit und ein selbstbestimmteres Leben zu erfahren und umzusetzen. Zwar weisen gesellschaftliche Erscheinungsformen nicht unbedingt darauf hin (oder suggerieren gar das Gegenteil), doch der Mensch ist als ein zutiefst soziales Wesen anzuerkennen, das sich erst in der Verbundenheit und freien Begegnung mit anderen wesenhaft erfährt. Die Bereitschaft zur Veränderung und das Geschehen-Lassen, das SichEinlassen auf transformierende Erfahrungen sind ebenso zentral wie der Blick auf mentale Muster und die Veränderbarkeit (Bildbarkeit, Bildsamkeit) der je eigenen Wahrnehmung.
Betont wird insgesamt die Bedeutsamkeit kritischen Nachdenkens, die Einbindung von Gesundheitsfragen in größere (gesellschaftliche, geschichtliche, institutionelle) Zusammenhänge, die Verschränkung von Gesundheit mit individuellen Lern- und Bildungsprozessen, die Relevanz subjektbezogener Wahrnehmungssensibilisierung und die Förderung eines gesundheitsbewussten Handelns im Rahmen gesundheitsorientierter Bildungsprozesse.
„Gesundheit“, eine Annäherung
Aus einer kritischen und wahrnehmungsorientierten Sicht der Bildungswissenschaft gibt es „Gesundheit“ als unmittelbar erfahrbare Befindlichkeit gar nicht. Sie ist vielmehr ein Abstraktum, eine Leerformel, ein mentales Konstrukt, dessen sich Menschen, Institutionen, gesellschaftliche Teilsysteme bedienen. Sie kann weder gekauft, erbeten oder erarbeitet werden, noch entspricht sie irgendeiner leibhaftigen Wirklichkeit. Gesundheit ist also das, was darunter verstanden wird beziehungsweise verstanden werden soll. Sobald Menschen durch Erziehung, Gruppenzugehörigkeiten und die sie begleitenden Identifikationsmechanismen den Containerbegriff Gesundheit mit den daran gebundenen Vorschriften und Regeln („Du sollst …“, „Erst wenn Du, das und das machst …“ usw.) übernehmen, beginnen sie sich der Wirkmacht eben dieses Konstrukts zu unterstellen. Im Verlaufe des eigenen Lebens werden damit bipolare Räume eröffnet, innerhalb dessen sich Erfahrungen von Macht und Ohnmacht (Täter, Opfer) zeigen.
Demgegenüber lässt sich eine Reihe von alternativen Lesarten von „Gesundheit“ rekonstruieren, die für Bildung im Lebenslauf insofern von Bedeutung sind, als sie dem beharrlichen Einüben von Nachdenklichkeit und Reflexivität wie auch der Verfeinerung der individuellen Wahrnehmungsfähigkeit dienen. Dazu gehört die Befähigung, das, was ist und sich „nur so und nicht anders“ zeigt, in eine historische – lebensgeschichtliche und kollektivgeschichtliche – Perspektive einzubetten. Anhand von alternativen Gesundheitsverständnissen lassen sich in Bildungsangeboten Prozesse und Wirkmechanismen der Selbst- und Fremdbestimmung des eigenen Lebens erforschen und lässt sich fragen: „Warum glaube ich an eine bestimmte Sichtweise, ein bestimmtes Deutungsmuster? Sind dies meine eigenen Gedanken oder werde ich ‚gedacht‘, in zirkulären Gedankenschleifen gehalten? Woher kommt dieser Glaubenssatz?“ und so weiter.
Die Wirkmächtigkeit der Gesundheitsmythen
Im kritischen Anschluss an die Interpretationen des Soziologen Ulrich Oevermann zeigt sich in säkularisierten Gesellschaften mit jüdisch-christlicher Tradition die religiöse oder quasi-religiöse Suche nach Erlösung als eine Art nicht stillstellbare Bewährungsdynamik, die dann nicht zuletzt in einem fortwährenden „Kampf gegen Krankheiten“ zum Ausdruck kommt.
In ihren säkularisierten Formen spiegelt sich der Akt der „Befreiung“ von einer Krankheit – präventiv gedacht: die Vermeidung oder Verhinderung von Krankheit – vor allem in den Vorstellungen einer durch individuelles Fehlverhalten zustande gekommenen Schuld. Begleitet werden diese Vorstellungen von dem Glauben, sich einer permanenten Anstrengung unterziehen zu müssen, um den eigenen Körper gesund zu erhalten und auf diese Weise als funktionstüchtiger Bestandteil der Gesellschaft anerkannt oder zumindest nicht „ausgestoßen“ zu werden.
Erst aus diesem kulturgeschichtlichen Zusammenhang heraus lässt sich die kollektive Wirkmächtigkeit der bis heute in individuellen Gesundheitsbiografien unterschwellig wirkenden Wunschvorstellungen, Sehnsüchte und Ängste von Menschen in Gestalt diverser, auf Krankheit und Gesundheit bezogenen Mythen begreifen.
Zur Videoreihe „Gesundheitsbildung: Vom Mythos zur Professionalität?“
Reflexionsorientierte Bildungsprozesse
Als Angehörige spezifischer Gesellschaftsformen und Kulturkreise können sich Menschen aus gesellschaftlich-kulturell wirkenden, intergenerationell weitergegebenen Mechanismen und mental-emotional wirksamen Prägungen nicht ohne Weiteres lösen. Deshalb ist es so wichtig, sich der unterschiedlichen historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge bewusst zu werden, sich mit möglichen Hintergründen, Wirkmechanismen und daraus resultierenden Prägungen des eigenen Lebens kritisch und nachdenklich zu befassen und deren unterschiedliche Formen und Wirkweisen im Lebensalltag wahrzunehmen.
Welche Geschichten als glaubhaft und wirkmächtig erkannt und wahrgenommen werden, obliegt vor allem dem Einzelnen im lebensbegleitenden Prozess einer möglichst ganzheitlichen – reflektierenden und wahrnehmenden – Bildung. Dergestalt ist Bildung ein vielseitiges und vielschichtiges wie auch andauerndes Unterfangen, wobei der spielerischen Komponente eine hohe Bedeutsamkeit zukommt gegenüber etwaigen Vorstellungen von Leistung, Anstrengung und Zielerreichung.
Das heißt im Fazit:
Für eine reflexive Gesundheitsbildung im Lebenslauf reicht es nicht aus, im Sinne eines verkürzten Mündigkeitsverständnisses ausschließlich an den Verstand zu appellieren. Genauso wenig sollte in neoromantischer Weise einer neuen „Gefühlsduselei“ das Wort geredet werden.
Bildungsprozesse, wie sie hier empfohlen werden, sind vielmehr an die Bereitschaft gebunden, das eigene Denken, die eigenen Wahrnehmungsmuster wie auch reaktive Verhaltensweisen und damit letztlich auch sich selbst neu zu erkennen und – überraschungsoffen – Veränderungen zuzulassen. Humor und Leichtigkeit scheinen hierbei ebenso behilflich zu sein wie auch der Erwerb der oben genannten sensiblen und wahrnehmungsgebundenen Unterscheidungsfähigkeit. Ein ebenso abstraktes wie kollektiv und biografisch wirkmächtiges Gesundheitsverständnis kann durchaus überführt werden in Prozesse des sensiblen Wahrnehmens und des Sich-Einlassens auf das, was jeweils vorgefunden wird und was sich darin subjekthaft und in Resonanz mit anderen wie auch der belebten, unbelebten Natur neu zu gestalten vermag. Doch Bildung im Lebenslauf kann nun mal nur aktiv vollzogen werden und sie gelingt oder eben nicht.